Barbara Kenneweg
Autorin und Regisseurin

ÜBER BLUMEN  (tirade)

kürzlich sah ich ein foto von hatun sürücü in der zeitung, die im februar 2005 in berlin tempelhof opfer eines ehrenmordes wurde. es war liebe auf den ersten blick, ich heftete mir das foto an die wand, begann eine erzählung über die verstorbene zu schreiben und stürzte in eine persönliche krise. sowas passiert mir öfter, mein mann sagte, ich stehe ja entsetzlich unter strom, und da hatte er zweifellos recht, so beschloß ich, um strom abzubauen, mich dem thema blumen zu widmen, also nicht so sehr gärtnerisch, als vielmehr literarisch. in meinem garten wachsen zwischen dem unkraut ein paar rosen, lilien und vergißmeinicht, und ich dachte, die müssen unbedingt rein in die erzählung über den ehrenmord, zur entspannung, sozusagen, aber ich bin schon sehr bald, nach weniger als zwei minuten, auf schwierigkeiten gestoßen, unüberwindliche schwierigkeiten. denn erstens ist das thema blumen vollkommen abgeschmackt, und zweitens ist es unmöglich, auch nur ansatzweise die schönheit einer blüte zu beschreiben, die reinheit eines tiefen blumenblaus, die frische des frischen rosas einer frisch erblühten rosanen rose (mein gott!), das ist quatsch, das kann man nicht beschreiben, und zu malen ist das privileg der maler, beziehungsweise ihr fluch, denn warum (mein gott!) malen menschen blumen, wo es doch echte blumen gibt, göttliche blumen, von denen ein einzelnes blatt tausendmal schöner ist als jeder noch so kunstvoll gemalte strauß, vom duft ganz zu schweigen, den duft lassen wir hier mal außen vor, der läßt einen ja gleich verstummen, wenn ich meine nase in einer rose vergrabe, könnte ich stundenlang weinen, natürlich vor glück; aber dann hält das glück überhaupt nicht lange vor, ein blick auf die uhr zeigt, das es genau eine minute und 53 sekunden gedauert hat.
apropos zeit und glück muß ich an einen film denken, einen ebenso genialen wie unbekannten essay - film, den außer mir keiner zu kennen scheint, er heißt „sans soleil“, und beginnt mit bildern aus island, weißblonden, lachenden kindern auf einer langen schwarzen teerstraße zwischen baumlosen hügeln, riesiger himmel, am ende ein dorf. ein jahr darauf, das erfahren wir später, würde der nebenstehende vulkan ausbrechen und alles unter mehreren metern asche begraben; der film handelt vorrangig von zeit und glück, weswegen ich ja darauf zu sprechen kam, und irgendwann kommt etwas über wunden vor, das jemand, dessen namen ich vergessen habe, laut dem film gesagt haben soll, ich habe ein schlechtes namensgedächnis, auch an den wortlaut kann ich mich nicht genau erinnern, aber in meinem kopf ist sperrig und schwer die behauptung hängen geblieben, daß die zeit keine wunden heile. im gegenteil lasse die zeit alles, was die wunde hervorgerufen habe, personen, umstände, allmählich verblassen, bis schließlich sie, die wunde, als destillat ihrer selbst allein zurückbleibe, körperlos. „sans soleil“ ist ohne zweifel der beste film, der je gedreht wurde, auch wenn er außer mir keinen interessiert, und das sage ich jetzt nicht aus eitelkeit, denn die eitelkeit, die darin befriedigung finden könnte, einen ausgefallenen geschmack zu haben, wird unendlich überwogen durch die aus dem aus der reihe gefallenen geschmack resultierende einsamkeit, nichts macht einsamer als ein ausgefallener geschmack, es ist todtraurig, viel besser ist es, beispielsweise keinen geschmack zu haben; aber eigentlich wollte ich etwas über blumen sagen.
in sans soleil also, um auf die blumen zurückzukommen, wird sei shonagon zitiert, eine japanische hofdame des elften jahrhunderts, deren werk zu einem nicht unbeträchtlichen teil, und vielleicht ist es sogar der wertvollste teil, aus listen besteht. die frau war klug genug, sich mit adjektiven und attributivsätzen, welch gotteslästerliche zeitverschwendung, nicht aufzuhalten. blüten finden sich bei ihr in der liste namens: dinge, die verlieren, wenn man sie malt. diese liste kommt in sans soleil allerdings nicht vor, dort findet sich die liste der dinge, die herzklopfen verursachen, und ganz abgesehen von dem, was die dichterin in diese liste hineinschreibt, zum beispiel den anblick gerade aus dem ei geschlüpfter vögel, und diesem beispiel müßte man, wenn man bei verstand wäre, wenigstens drei atemzüge raum lassen, also abgesehen von den vögeln hebt der regisseur die liste an sich hervor, ihr kriterium, WAS DAS HERZ HÖHER SCHLAGEN LÄSST. WAS DAS HERZ HÖHER SCHLAGEN LÄSST im kontrast zu beispielsweise, füge ich eigenmächtig hinzu: WAS MAN KAUFEN KANN; WAS DIE ZEIT VERSCHLINGT; WAS IM SONDERANGEBOT IST... unter shonagons schönen listen gibt es eine, die aus dem rahmen fällt, sie heißt: was zu nichts zu gebrauchen ist, und es ist nur eine einzige sache darin aufgeführt: EIN HÄSSLICHER MENSCH, DER EIN SCHLECHTES HERZ HAT. das läßt einen erzittern, vorallem innerlich, instinktiv blicke ich nach abflauen des erzitterns auf die uhr und stelle fest, daß eine minute und 53 sekunden vergangen sind.
ich besitze eine postkarte, die mir vor jahren ein freund geschickt hat, auf der ein hässlicher mensch mit schlechtem herz zu sehen ist und welche ich kürzlich, als handele es sich um die bestmögliche ergänzung, neben das foto von hatun sürücü über meinen schreibtisch gehängt habe, womit wir wieder oder vielmehr noch immer mitten im thema sind. die beiden bilder nebeneinander sind vielleicht die essenz der erzählung, die zu schreiben wäre in bildlicher form, fertig, unumstößlich. die postkarte ist eine gemäldereplikation und zeigt im zentrum einen herrn in roter uniform, seine füsse sind klobig, seine beine fette säulen, im schritt sieht er unter der enganliegenden hose aus wie eine frau. nach oben hin wird er immer kleiner, der brustkorb ist bereits sehr unbedeutend, trotz der goldenen uniformtroddeln, die hände sind die eines säuglings, der kopf sitzt auf dem fetten hals rund und glatt wie eine erbse mit schnäuzer. der gesichtsausdruck gleicht ebenfalls dem einer erbse. um die gestalt herum reihen sich weitere fette erscheinungen in militärgrün, ein mann auf einem spielzeugpferd, frauen, die dem roten bis zur hüfte reichen, ein kniegrosses kind mit säbel. alle haben ein gesicht, rund, dumm, erbsengleich. nur der pudel unten rechts sieht etwas lebhafter aus, er scheint zu grinsen. es handelt sich bei diesem bild um ein gemälde von 1971, genauer: um das offizielle porträt der kolumbianischen militärjunta, gemalt von fernando botero. es ist das hässlichste bild, was ich je gesehen habe, und es erfüllt mich täglich mit mehr ehrfurcht, denn, auch wenn es unfaßbar scheint, scheint es so zu sein, daß der maler dem diktator sein metapyhysisches ebenbild, wie es abstoßender kaum sein könnte, als künstlerische abstraktion seiner größe verkauft hat, mit falschen engelszungen, unter lebensgefahr, und so den tyrannen unter dem vorwand der verherrlichung vor aller welt der lächerlichkeit preisgab. darüber kann man stundenlang weinen, vor bewunderung, natürlich; dann aber ist diese regung doch schnell wieder vorbei, schneller als man dachte, der blick auf die uhr zeigt, daß lediglich eine minute und 53 sekunden vergangen sind, das halbe leben steht bevor, noch immer, und hatun sürücü liegt noch immer in ihrem grab, und ich merke, daß ich ganz schön unter strom stehe, es ist höchste zeit, zu den blumen zurückzukehren, zur entspannung sozusagen.
zwischen zwölf und zweiunddreißig, das ist immerhin der größere teil meines bisherigen lebens, habe ich mich nicht im geringsten für blumen interessiert. es gab so viele andere dinge, vorallem solche, die weit weg waren, antike steinbrocken und gipfel in ewigem eis, und dann gab es auch diktatur und kriege und hungersnot in äthiopien. ich wollte in die welt hinaus, nicht gerade, weil ich davon ausging, es sei eine gute welt, im gegenteil, aber auf der flucht vor unserer leise vor sich hinrottenden gutbürgerlichkeit schien alles grandiose, egal wie grauenhaft, ein schritt in die richtige richtung. dann, sehr plötzlich, ich weiß nicht recht, warum, ist es umgeschlagen. vielleicht war es auch gar nicht plötzlich, nur ich habe es lange nicht bemerkt, jetzt jedenfalls fliehe ich in die entgegengesetzte richtung, richtung freude also, ich verschreibe mir gartenblumen als kur, ich höre sogar mozart, aber auch dabei muß ich weinen, denn was ist lebensfreude, wenn 90 % der bevölkerung fernsehsüchtig sind, dazu gibt es kaum einen tragischeren soundtrack als mozarts jubilieren. vielleicht sollten wir wirklich endlich untergehen, diese zivilisation meine ich, und gegen diesen gedanken hilft nichts, nichts als ganz schnell etwas anderes zu denken, einen starken kaffee zu trinken, das spielzeug aufzuräumen, das die kinder überall herumliegen lassen, meine kinder mit ihrer rätselhaften zukunft auf dem absteigenden ast unserer zivilisation, die sonne strahlt hell durchs fenster, ein herrlicher tag, ja, auch das verrottende hat seinen glanz, immer noch glanz, und ich finde das alles so schade, diesen untergang unserer glanzvollen kultur, daß ich weinen möchte, ein bißchen nur, vor wehmut; aber die tränen wollen, trotz vorhandensein der regung, nicht kommen, auch nach einer minute und dreiundfünfzig sekunden nicht, und die wehmut geht auch nicht weg, kennen sie diese momente, jeder gedanke ein messerstich, da bleibt nur die flucht, ich renne also, was das zeug hält, um etwas anderes zu finden, frieden zum beispiel, oder eine atempause, renne bis zum umfallen, vielleicht findet man so den frieden ja nicht, aber meine liebe zu blumen habe ich dabei komischerweise wiedergefunden, nach dem umfallen vielleicht.
wie in der kindheit betrachte ich die blüten und blätter und die dicken hummeln und all die zahllosen abenteuerlichen geflügelten und ungeflügelten krabbelwesen, deren namen ich nicht kenne. ein schlanker, länglicher käfer verliert in einer frisch aufgeblühten rose den kopf, hektisch sich drehend, fast sich überschlagend, tastet er mit seinem rüssel alles ab, fällt beinahe herunter; kein wunder, ein wesen, daß sich hauptsächlich mit dem geruchssinn orientiert, mitten in einem frisch aufgeblühten rosenkopf. unbegreiflicherweise interessiert sich in meiner umgebung niemand für sowas. ein staksiges tier mit durchsichtigen flügeln, sieht aus wie eine mischung aus heuschrecke und schmetterling, marschiert zielbewußt und unbeirrt den langen stiel einer weißen lilie hinauf, deren blüte oben thront wie der unberührte schnee des mount everest. mein herz hüpft, mich streift die arglose achtlose vollkommenheit der natur, und, ich habe irgendwann mal platon gelesen, und noch andere sachen, ich denke, daß das doch ein spiegel sein muß, daß es das doch auch in uns geben muß, irgendwo, das schöne, die reinheit. auch wenn das schöne und die reinheit natürlich auf jeder kitschpostkarte zu haben sind, wobei ich als eingefleischter kitschhasser mit zunehmendem alter vermute, daß der kitsch die eigentliche höhere wahrheit ist, der ich mich nur allzu schmerzlich entfremdet habe, vor 30 jahren vergoß ich tränen um einen blauen esel, den eine bösartige große schwester für mich erst erfand und dann sterben ließ, was ist nur seitdem mit mir passiert, alles schutz und abwehr, jetzt übrigens tritt sie ihren welpen, meine schwester, wenn er auf den teppich pinkelt, einmal hat sie das tier sogar die treppe runtergekickt, das nur am rande, der esel jedenfalls war ein so perfektes geschöpf, wie ich danach nie mehr eines angetroffen habe, vereinte alle schönheit und tugend in sich und auch das allerreinste blau, kurzum, er mußte jeden menschen über zehn tödlich langweilen, und war schon von daher, mit oder ohne böse schwester, zum tode verurteilt, sowie meine schwester natürlich auch, obwohl sie sich erstaunlich gut hält für ihre vierzig plus. das ist die heutige kosmetikindustrie, vorallem die plastische chirurgie, die hat meine schwester nicht nur von unschönen schwangerschaftsresten, sondern sogar von ihrer nase befreit, jetzt hat sie nur noch ein stups, ohne nase, und sieht ungefähr aus wie barbie, insofern barbie ein aussehen hat, im eigentlichen sinn. ich gäbe viel darum frau sürücü zu fragen, was sie von der weiblichen freiheit hält, die darin besteht, größtmögliche ähnlichkeit mit aktuellen unterwäschereklamen zu erzielen.
übrigens fliegt, während ich dies schreibe, apropos schönheit, vor meinem fenster immer wieder ein schmetterling, wahrscheinlich ist es jedesmal ein anderer, aber immer ist er weiß und fliegt von links nach rechts, das sehe ich aus dem augenwinkel; möglich, daß ich die, die von rechts nach links fliegen, einfach nicht sehe, weil mein eines auge schlechter ist oder mein gehirn einseitig strukturiert, ich gehe davon aus, beschränkt zu sein, und diese annahme beruhigt mich ungemein, genaugenommen ist sie sogar das einzige, was mich aufrecht hält, neben den blumen, also jedes mal, wenn der schmetterling vorbeifliegt, meldet mein hirn, es kommt jemand, ein mensch, oder wenigstens ein hund, und diese verwechslung eines flüchtigen falters mit einem massiven domestizierten säuger müßte man in die liste der erfrischend belustigenden dinge aufnehmen, sie amüsiert mich ausgesprochen, mit anderen worten, hält mich aufrecht. allerdings hält die spirituelle hoffnung auf beschränktheit nicht lange vor, der blick auf die uhr informiert mich, daß ihre dauer auf eine minute und 53 sekunden beschränkt ist.
die wahrheit ist, daß es zwischen den blumen meines gartens häuserschnecken gibt, viel mehr schnecken als schmetterlinge, unglaublich weiche delikate wesen mit noch delikateren fühlern. sie sind, vorallem bei feuchtem wetter, überall, unter blättern, zwischen halmen, an steinen, man kann unmöglich alle sehen, also, durch die simple notwendigkeit, mich in meinem garten fortzubewegen, trete ich drauf. es gibt ein krachendes geräusch und, falls ich wage hinzublicken, auf dem boden zurückbleibenden matsch mit kalksplittern, wo vorher ein zartes wesen mit noch zarteren fühlern war.
das einzige, was mir dazu, als eine art trost, falls es das gibt, einfällt, ist ein gedicht von blake, william, nicht über blumen, sondern über eine totgeklatschte fliege, in welchem er, ein wenig verkürzt, die behauptung aufstellt, wenn denken leben, und mangel an denken tod bedeutet, tot oder lebendig in etwa das äquivalent einer glücklichen fliege zu sein; das wünsche ich mir auf meinem grabstein, sowie im übrigen auch einen birnbaum und vergißmeinicht, soviel zum kitsch, und damit wären wir wieder bei den blumen, diesmal durch schicksalhafte, wenn nicht göttlich zu nennende fügung, in zusammenhang mit blake, william, gestorben 1827, der in einer blauen blume am wegesrand nur eines sieht, das einzig wahre, meine ich, und eben das, was ich auch sehe, vielmehr, eben nicht sehe, sehe wie durch eine wand, aus einer anderen welt, ahnend, aber abgetrennt, etwa so wie NIMM IHN DOCH, GIB IHN MIR HER, DEN VOLLEN MOND, WEINTE DAS KIND, aber das ist nicht blake, sondern ein gedicht von issa, kobayashi, gestorben 1827, ich bin sicher, die beiden hätten sich gut verstanden, auf jeden fall hätte es issa nicht gestört, daß blake vielen als geisteskrank galt, oder wenigstens als idiot; müßte man heutzutage nicht solche angst haben, schon bei kleinen anlässen unter psychopharmaka gesetzt zu werden, würde ich zugeben, daß ich die beiden dichter vor mir sehe, im jahre 1827, wie sie auf einer wolke gemeinsam in den himmel schweben, händchenhaltend; das ist bestimmt wieder der strom, unter dem ich stehe, nun gut, was blake sah, jedenfalls, in der zufälligen feldblume, einem unkraut, genaugenommen, war einfach himmel, nicht SKY, sondern HEAVEN, das reicht, um stundenlang zu weinen, vor ergriffenheit; dann jedoch ist diese regung schon recht schnell wieder vorüber, schneller als man dachte, der blick auf die uhr zeigt, daß lediglich eine minute und 53 sekunden vergangen sind, das halbe leben steht bevor, immer noch, meine bluse hat schweißflecken, igitt, mein kleiner zeh tut weh, wahrscheinlich gebrochen, gebrochen vom leben, von der stuhlkante, vom kleinkind, mama, wie lange noch?, an der bushaltestelle in berlin tempelhof, wo hatun sürücü von ihrem bruder niedergeschossen wurde, welken unterdessen die vergißmeinicht, winzige kränze himmelweiten blumenblaus, dahinter eine unterwäschereklame von c&a, dahinter die hochragende wand der plattenbauten; der himmel gebe, daß die zeit vergeht, himmel!, welch eine kardinalsünde, das zu denken, darüber muß man doch stundenlang weinen, vor scham natürlich, aber dann ist diese regung doch recht schnell vorbei.
schneller, viel schneller als man dachte.